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Eine „Stadtführung spezial der besonderen Art“
Abendlicher Spaziergang durch die Ahlener Innenstadt

vom Freitag, 21. August bis Samstag, 12. September 2015

Viertel, Orte, Plätze, Häuser bietet jede Stadt, aber wer waren die Menschen, die gestern und heute hier wohnten und wohnen, lebten und leben? Wem sind sie heute noch bekannt? Ein solches Angebot, eine solche Führung gehört zur Erinnerunsgskultur. Der sechsstündige Innenstadtrundgang ist beispielhaft und unter anderen Gegebenheiten zur Nachahmung empfohlen.

Treffpunkt der Teilnehmer war um 18 Uhr 30 das Alte Rathaus am Markt und die Treppe hinauf in den ehemaligen Kassenraum, wo einstmals Herr Tschierschwitz seinen städtischen Abrechnungen nachkam. Mit einer gesetzlich vorgeschriebenen Einführung begrüßte uns Tante Käthe in einem Videofilm sehr freundlich und gab Hinweise.

Zuerst folgte der Gang zur benachbarten Pastorat St. Bartholomäus, links am ehemaligen Pferdestall vorbei. Dieser Durchgang sollte vor einigen Jahrzehnten geschlossen werden, um die Sakristei zu vergrößern, in der auch historische Kirchenexponate gezeigt werden sollten. Dem Antragsteller Dechant Paul Röschenbleck wurde die Genehmigung jedoch versagt.
Sehr realistisch war die Darstellung des Wunders der Blindenheilung in Ahlen durch den 1. Bischof von Münster, den hl. Ludgerus. Schauspielerisches Talent bewiesen auch die Magd des Pastors sowie der blinde Bettler.

Siehe Ausstellungen/Ludgerusausstellung
Ahlen gedenkt der Blindenheilung durch St. Liudger, Dokumente einer Erinnerungskultur Ausstellung im Museum im Goldschmiedehaus, Ahlen vom 23. Oktober bis zum 24. November 2005.

Dann folgte der erste Auftritt der beiden hervorragenden Musikanten der Gebrüder Möxel (Axel Roning und Mötte (Thomas) Gerullis) mit ihren Zupf-Instrumenten und freien Texten, die dem Rundgang eine musikalische Note gaben.
Anmerkung zur namenlosen Gasse: Es gibt historische Zeichnungen, in der diese als „Vogelgasse“! bezeichnet wird. (Anni und Werner Fischer haben diese Zeichnung irgendwann gesehen). Wer kennt die Zeichnung das Bild?
Ein Bild mit der Bezeichnung „Kirchgasse“ ist im Besitz der Familie Fischer.-

Dann folgte der Gang zum Rathaus. Hier wurden wir von Hausmeister Müller (Tobias Winnopal) empfangen und unten durch die Tiefgarage ins Rathaus geführt. Wegen der „großen Nässe“ an der Decke, den Wänden und dem Fußboden war das Anlegen von Schutzkleidung - Mützchen, Kunststofffüßlingen und Warnwesten - unumgänglich.
Alle waren gutgelaunt und machten mit. Bei der Rathausbesichtigung stellte sich heraus, dass es eine Bauruine ist, wenngleich witzige gespielte Arbeitssituationen, unter denen die Mitarbeiter im Rathaus zu leiden haben, gar nicht witzig, sondern eine skandalöse Zumutung sind.
Gott sei gedankt wurden die Gedanken anschließend beruhigt durch den Gondoliere, der mit den Musikanten auf der Werse eine Ehrenrunde paddelte.

Es wurde dunkel in Ahlens Gassen und unser Vorgänger, Erzähler, Regisseur und Verantwortlicher des Trips, der Leiter der VHS Ahlen Rudolf Blauth, führte uns zur Küfergasse.
Ein Highlight war der Auftritt der Familie Schulz, deren Vorfahren aus Wolbeck stammen.

Werner Fischer lernte direkt nach dem 2. Weltkrieg die Küfer-Schulz-Ahnen in Wolbeck kennen. Sie fertigten auch Handwagen an. Einen davon kaufte die Firma Abeler, Feinuhrmacher und Juweliere in Münster, den Werner Fischer als Lehrling zu Fuß von Wolbeck nach Münster abholen mußte. Blamabel und beschämend war für ihn, dass am Bollerwagen mit roter Schrift geschrieben stand: „Geklaut bei Abeler“. Das hat mit dem Rundgang natürlich nichts zu tun aber die Gedanken sind ja frei.
Bei der Ahlener Weinküferfamilie Schulz präsentierte der noch einzige Küfermeister Deutschlands sein Handwerk, nämlich das Aufziehen eines Weinfasses. Der Junior Schulz wurde für seine Idee, am Südhang der Ahlener Zechen-Halde einen Weinberg anzulegen, urkundlich ausgezeichnet. Ausgezeichnet war auch der Wein, der den Besuchern angeboten wurde und ein altes Küfergedicht, das Frau Schulz ihrem Mann in Liebe gewidmet hat. Urlaubsträume vermittelten die beiden Stadtmusikanten Axel Roning und Mötte Gerulis mit dem Lied Griechischer Wein und alle stimmten ein.

Zurück über die Wilhelmstraße zum Marktplatz, wo ein unrasierter Penner mit Hut und einem mit Zeitungen vollbepacktem Fahrrad herumstrolchte. Es war Opa Grasgrün (André Osthues), ein ehemals Ahlener Original, von Beruf Lehrer, der nach dem Krieg der Zivilisation trotzte.

Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und erreichte die Ost-West-Achse, wo Gold Fischer bereits nach Ladenschluß wieder geöffnet hatte. Dort ging es die Treppe rauf und die Gäste schnupperten Museumsatmosphäre. Nachdem alle Platz genommen hatten, schlüpfte Rudolf Blauth in den Beruf eines Museumsführers und stellte das Konzept des Interreligiösen Museum gekonnt vor, das mit der Zeitmessung endete. Als Übergang zu dem eigentlichen Besuchsgrund kündete er den Besuch Napoleon Bonapartes an, des einstigen Herrschers Frankreichs. (Raphael Fischer)

napoleon

Dieser erschien in seiner Uniform mit Zweispitz, allen Ehrenzeichen der Nation und berichtete über seinen Besuch 1812 in Ehrang bei Trier vor der Moselüberquerung, wo er unfreiwillig übernachtete, weil in Trier, dem vorgesehenen Nächtigungsort die Pocken ausgebrochen waren. „In Ehrang übernachtete ich im Gasthof Zander, dessen Inhaber gleichzeitig Maire = Bürgermeister von Ehrang war und dessen Tochter mich liebevoll betreut hat. Als Dank für die erwiesene Gastfreundschaft schenkte ich ihr eine echt goldene Damentaschenuhr, die ich aus diplomatischen Gründen dem Vater Zander überreichte.“
In der Folgezeit wurde die wertvolle Taschenuhr in diesem Gasthaus im sogenannten „Napoleon-Zimmer“ aufbewahrt, dessen Interieur unverändert blieb und für die Hotelbesucher eine Attraktion war.
Jahrzehnte vergehen. Im Gasthof Zander wurden vor dem 2. Weltkrieg Gäste der Organisation Kraft durch Freude einquartiert, die sich die langen Abendstunden mit Kartenspielen vertrieben - unter ihnen auch der Bergmann Xaver Abel aus Pelkum bei Hamm und ein Nacherbe der Familie Zander als Gasthofbesitzer. Als der Wirt Zander bereits sein ganzes Geld verspielt hatte, setzte er die „Napoleonsuhr“ ein, die Xaver Abel gewann. Er vergrub die Uhr während des 2. Weltkrieges sicher in einem kleinen Holzkästen.
Aus Anlaß seines 80. Geburtstages wollte er die wertvolle Napoleonsuhr seinem jungen Enkel schenken. Derselbe verschmähte sie aus Unkenntnis mit den Worten „Opa, was soll ich mit dem Scheißding.“ Opa war entsetzt und wollte nun die Uhr dem Gustav Lübke Museum in Hamm vermachen. Museumsdirektor Dr, Zink verwies Xaver Abel jedoch nach Ahlen zu Werner Fischer, da sein Museum in Hamm keine eigene Uhrenabteilung besaß. Xaver Abel fuhr mit seinem Lloyd sein Spitzname: Leukoplast-Bomber nach Ahlen und Werner Fischer erwarb die kostbare Uhr. Dr. Zink erhielt von Werner Fischer für seine Vermittlung einen seltenen Orden der Stadt Hamm. Alles hat seine Geschichte auch die Niederlage von Waterloo, die die Stadtmusikanten wiederum geistreich unter dem Beifall der Gäste vortrugen.
Der inzwischen aufkommende kleine Hunger wurde mit einem langen Münsterländer Mettendchen gestillt. Dann ging es treppab an der Prominentenwand vorbei direkt zu „Gamba“, dem ersten Eissalon in Ahlen, wie Opa Grasgrün zu schildern wußte. Fürs Zuhören bekam jeder zum Sonderpreis von 10 Cent ein Hörnchen Eis rot-weiß, den Stadtfarben von Ahlen. Dann eilten die Pilger über die Klosterstraße und wiederum war es Opa Grasgrün, der sich über ein Nicht-Willkommensschild einer Gaststätte am zeitgeschichtlichen Punkt des jüdischen Mahnmals maßlos ärgerte.
Die prekäre Situation erklärte unser Leiter Rudolf Blauth. Von der Klosterstraße bog die Gruppe ab in eine kleine Gasse, in der sich das ehemalige Kloster „Maria Rose“ befand. Vor dem Kloster berichtete eine junge Nonne von ihrem einstmaligen Kloster und setzte mit ihrer brillanten Aussprache Akzente, die berührten. Für uns Fischer´s war es der würdige Höhepunkt dieses Stadtrundgangs. Schade, dass in dieser Situation die Stimmen verstummten.

In einer weiteren dunklen Gasse auf dem Weg zur Posthalterey erfuhren wir wiederum durch Opa Grasgrün über die Poststation in Ahlen über Reisende, die damals von Münster nach Ahlen, Beckum, Soest und weiter nach Frankfurt reisten. Er stellte fest, dass sich die Reisezeitdauer bis heute kaum geändert hat. Dank galt ihm, dem Darsteller von Opa Grasgrün, der seine schwere Rolle glaubhaft verkörpert hat.
Vor der Posthalterei trafen wir noch auf einen durstigen Postillon mit seiner Liebsten. Die beiden gaben uns einen erfrischenden Einblick in einen früheren Flirt. Bravo! Klasse!

Nicht müde werdend war es wiederum Rudolf Blauth, der die Posthalterey, den Wirt und Koch mit österreichischen Wurzeln vorstellte. Erwähnenswert seien auch die Aktionen des sogenannten Rudelsingens, das am letzten Donnertag eines jeden Monats in der Posthalterey stattfindet. Anmeldung erwünscht bei Axel Roning, der feststellte, dass in ihm blaues Blut fließt.
Der Wirt, Herr Baumgartner, hatte für die 60-köpfige Gruppe westfälisches Möpkenbrot mit Äpfeln zubereitet.

In der Freude, einen sensationellen Abend erlebt zu haben, verabschiedeten wir uns mit stummem, aus dem Herzen kommendem Dank an alle Akteure und Gedankengeber. Als Schauspieler wirkten Tobias Winnopal, Meike Wiemann, Olga Laschko und André Osthues mit – alle vier gehören zum Theaterensemble der Kulturinitiative Filou in Beckum.

Der WDR Studio Münster filmte das Ereignis und sendete den Film am Mittwoch, den 9. September in der „Aktuellen Stunde“ zwischen 19.30 und 20 Uhr.

Unter diesem Link können Sie den Bericht in der Lokalzeit Münsterland vom 9.9.2015 anschauen.

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